von Domkapitular Michael Dreßel
Predigt im Festgottesdienst des Festivals JUNGE STIMMEN
am 4. Sonntag der Fastenzeit (Lesejahr C)
Hoher Dom zu Regensburg, 30. März 2025, 10 Uhr
„Lætáre, Ierúsalem (…) gaudéte cum lætítia, qui in tristítia fuístis, ut exsultétis …“ – „Freue dich, Stadt Jerusalem! Seid fröhlich zusammen mit ihr, alle die ihr traurig wart. Freut euch…“ Diese Worte des Eröffnungsverses, liebe Schwestern und Brüder aus nah und fern, gleichen einem Notenschlüssel, den die Kirche ganz bewusst an den Beginn der heutigen Sonntagsmesse, der Messe vom vierten Fastensonntag gesetzt hat. Es ist ein Aufruf zur Freude, mit dem wir hineingeführt werden in diese heilige Feier. „Lætáre“: So lautet daher auch der Name des heutigen Sonntags. „Lætáre“ – „Freue dich!“
Dieses alles bestimmende Motiv der Freude klang auch schon in der Liedkantate von Heinrich Schütz an, die Ihr, liebe Knabenchöre, gerade eben so meisterhaft gesungen und mit der ihr uns mitgenommen habt hinein in diese heilige Feier. „Lætáre“ – „Freue dich!“
Kein Grund zur Freude?
Doch Hand aufs Herz: Gibt es überhaupt einen Grund zu solcher Freude? Oder gibt es nicht viel eher tausend Gründe, die einem die Freude im Hals stecken bleiben lassen? Wo man hinsieht, herrscht alles Mögliche, aber sicher kein Grund zur Freude.
In Myanmar hat in diesen Tagen ein Erdbeben tausende von Menschen von einer Sekunde auf die andere aus den Leben gerissen. In der Ukraine blutet in einem nicht enden wollenden Krieg, von einem menschenverachtenden Despoten verschuldet, ein ganzes Volk Stück für Stück aus. Im Heiligen Land, der Heimat Jesu, nehmen Grauen und Blutvergießen kein Ende. Weltweit ist die internationale Ordnung aus der Balance geraten, Handelswege und Wirtschaftsbeziehungen sind gestört. In Europa zerbröckelt die seit Jahrzehnten geltende Sicherheitsarchitektur und Deutschland muss in Reaktion darauf „kriegstüchtig“ gemacht werden; das alles in einer Gesellschaft, die polarisiert ist wie nie zuvor und in der die gemeinsame Wertegrundlage wegzuschmelzen droht wie Schnee in der Sonne.
Ich weiß nicht, was Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, was Euch, liebe Jugendliche, bei all diesen Nachrichten durch den Kopf geht. Freude ist es sicher nicht.
Empathie als grundlegende Schwäche?
In dieser Situation stieß ich vor ein paar Tagen zufällig auf einen Satz, der mir wie unter einem Brennglas eine Zusammenfassung der herrschenden Lage zu sein scheint: „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation“, so hieß es dort, „ist Empathie.“ Dieser Satz stammt von Elon Musk, dem einflussreichen Berater des neuen US-Präsidenten.
Lassen wir uns das auf der Zunge zergehen: „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie.“ Empathie, also die Fähigkeit und Bereitschaft über den eigenen Tellerrand, über das eigene Ego hinauszuschauen und sich in den anderen, in dessen Gefühlslage, in dessen Motive, in dessen Gedanken hineinzuversetzen, wird als grundlegende Schwäche diskreditiert. Was hinter einem solchen Denken steht, ist letztlich ein primitives Menschenbild: Der Starke setzt sich durch und der Schwache bleibt auf der Strecke. Dieses verquere Denken lässt sich durchbuchstabieren von der weltpolitischen Ebene bis hinunter in unser alltägliches Miteinander. Der, der die Ellenbogen ausfährt, der Starke, der Dominante hat die Nase vorn – der Schwache, der Kleine, der Hilfsbedürftige, der Zurückhaltende hat das Nachsehen.
„Festival Junge Stimmen“ – ein Statement und ein Grund zur Freude
Das, liebe Schwestern und Brüder, das also ist die Situation, in die hinein nun der Ruf ertönt: „Freue dich, Stadt Jerusalem (…) Seid fröhlich zusammen mit ihr, alle die ihr traurig wart. Freut euch…“
Ist das nicht naive Realitätsverweigerung oder gar billiger Zweckoptimismus? Nein! Weder noch! Denn es gibt einen Grund zur Freude! Und der sitzt hier: über 350 Mal. Das seit Ihr, liebe Buben und Mädchen, liebe Jugendlichen aus sechs verschiedenen Chören, die Ihr aus drei europäischen Ländern – aus Deutschland, Lettland und Spanien – hier in Regensburg zusammengekommen seid. Ihr seid ein Grund zur Freude!
Lasst mich das mit einem Zitat belegen. Es stammt nicht von Elion Musk sondern von der Homepage dieses Festivals und zeigt eine ganz andere Grundhaltung als die der ausgefahrenen Ellenbogen. Sie, lieber Herr Domkapellmeister, haben mich in einer Email zur Vorbereitung dieses Gottesdienstes darauf hingewiesen. „Der gemeinsame Gottesdienst“, heißt es dort, „ist ein bewusstes Statement mit der Musik den Blick auf existentielle Dimensionen zu weiten: Worauf richten wir uns aus? Für welche Werte treten wir aktiv ein?“ Ihr, liebe Sängerinnen und Sänger, setzt jetzt, in dieser Stunde ein Statement – über die Grenzen von Ländern und Nationen hinweg. Dafür danken wir Euch! ¡Muchas gracias! Liels paldies!
In Euren Chören lebt Ihr dieses Statement Tag für Tag. Denn ein Chor funktioniert nicht, wenn sich einzelne auf Kosten anderer aufplustern und meinen, sie müssten die anderen übertönen oder niederschreien. Das Symbol eines Chores ist nicht der ausgefahrene Ellenbogen, sondern die offenen, wachsamen Augen ausgerichtet auf den Chorleiter und das offene, wachsame Ohr hin zum Sänger, hin zur Sängerin neben mir. Ohne diese musikalische Form von Empathie, ohne die Fähigkeit und die Bereitschaft, auf den anderen hinzuhören, die leisen Zwischentöne wahrzunehmen, die eigene Begabung in den Dienst des Ganzen zu stellen, kann kein Chor existieren.
Dort aber, wo diese musikalische Form von Empathie gelebt wird, wo dieser Zusammenklang verschiedenster Stimmen und Talente gelingt, da entsteht etwas Großes, etwas Gutes (bonum), Wahres (verum) und Schönes (pulchrum). – Ja, das ist ein Grund zur Freude!
Göttliche Empathie als grundlegende Stärke
Nun mag vielleicht der ein oder die andere einwenden: Das klingt alles wunderschön! Aber ist das nicht trotzdem Selbstbetrug? Ist das nicht trotzdem Flucht vor der Realität hinein in einen schönen Schein? Was ist denn schon die schönste Musik gegen das Donnern des Krieges, gegen das Getöse von Waffen, Egoismus, Gewalt und Ausgrenzung? – Ich höre diesen Einwand, doch ich widerspreche ihm!
Und wieder seid Ihr es, liebe Sängerinnen und Sänger, die uns zur Antwort hinführen. Denn Ihr singt in dieser Stunde nicht irgendetwas, sondern ihr besingt DEN, der das tiefste Fundament aller Freude ist: Ihr besingt den großen, lebendigen und heiligen Gott.
Der Gott, den uns Jesus verkündet, hat es nicht nötig, sich aufzuplustern auf Kosten anderer; er hat es nicht nötig, die Kleinen und Schwachen in die Knie zu zwingen. Dieser unendlich große Gott geht selbst in die Knie, macht sich klein, damit wir kleinen Menschen groß sein können. Das haben wir an Weihnachten gefeiert: der unendlich große Gott, erschienen in einem kleinen, wehrlosen Kind in einer Futterkrippe, irgendwo im hintersten Winkel der Welt. – Ist das schwach? Nein, das ist stark!
Der Gott, den uns Jesus verkündet, lässt uns Menschen Freiheit, er nimmt uns ernst, selbst dann, wenn wir auf Abwege geraten. Aber er nagelt uns nicht fest auf unser Versagen und wirft die Tür nicht endgültig zu, sondern hält sie einen Spalt offen und schenkt uns immer wieder eine neue Chance. Das hat uns Jesus mit seinem Gleichnis vom barmherzigen Vater und seinem verlorenen Sohn sagen wollen. Gerade eben haben wir es im Evangelium gehört. – Ist das schwach? Nein, das ist stark!
Dieser Gott lässt nicht andere über die Klinge springen, sondern springt selbst über die Klinge – für uns. Am Kreuz teilt er sogar den Tod mit uns. In wenigen Tagen feiern wir das am Karfreitag. – Ist das schwach? Nein, das ist stark!
Der „empathische Gott“ – Fundament echter Freude
Gott hat sich klein gemacht, damit wir groß sein können. Gott hat sich niedergebuckelt, damit wir aufgerichtet werden. Gott hat unser Leid, Gott hat unsere Schuld auf sich genommen, damit wir erlöst werden. Gottes Sohn hat sich festnageln lassen am Holz des Kreuzes, damit wir frei werden, wahrhaft frei. Im Herzen seines Sohnes am Kreuz hat Gott sein eigenes Herz aufreißen und durchbohren lassen durch den Stoß der Lanze des Soldaten, „hinuntergebohrt bis in den Knoten der Trinität!“ So hat es der Dichter Paul Claudel in seiner „Hymne an das heilige Herz“ wunderbar besungen.
Dieser Gott ist das Gegenprogramm zu einer Grundhaltung, die rücksichtslos und empathielos alles dominieren will; dieser Gott ist das Gegengift zu einer Welt der ausgefahrenen Ellenbogen. – Ist das schwach? Nein, das ist stark! Das ist göttliche Empathie!
Wer sich an diesem Gott festmacht, hat ein Fundament, das nicht wackelt und nicht wankt, selbst wenn die Stürme toben. Wer sich auf diesen Gott verlässt, hat einen Maßstab, ein Fundament für ein gelingendes Leben. Wer auf diesen Gott baut, hat Grund zur Freude; ja wird selbst zum Boten, zur Botin dieser Freude!
Darum gilt nicht nur heute am vierten Fastensonntag, sondern jeden Tag der Eröffnungsvers dieser Messfeier: „Lætáre, Ierúsalem (…) gaudéte cum lætítia, qui in tristítia fuístis, ut exsultétis …“ – „Freue dich, Stadt Jerusalem! Seid fröhlich zusammen mit ihr, alle die ihr traurig wart. Freut euch…“ Amen.