Von Marius Linnenborn
Geistlicher Beirat des Deutschen Chorverbandes Pueri Cantores
Gleich sechs bekannte Knabenchöre an einem Tag und sogar in einem Konzert zu hören, ihren besonderen Klang und ihre jeweilige Interpretationsweise miteinander vergleichen zu können, ist ein außergewöhnliches musikalisches Erlebnis. Das Festival JUNGE STIMMEN anlässlich des 1050-jährigen Jubiläums der Regensburger Domspatzen bietet dafür die seltene Gelegenheit.
Eine besondere Chorgattung
Knabenchöre, deren Oberstimmen Sopran und Alt ausschließlich Jungen vor dem Stimmwechsel (Mutation) bilden, sind im Musikleben heute zu einem eher seltenen Kulturgut geworden. Ihre überwiegende Zahl ist mit einer kirchlichen Institution verbunden oder hat einen religiösen Ursprung und singt bis heute regelmäßig im Gottesdienst. Im Bereich der Alten Musik wird ihr Chorklang für die historische Aufführungspraxis besonders geschätzt.
Auch als Sozialgruppe bilden Knabenchöre eine Ausnahme, arbeiten doch Jungen und junge Männer in verschiedenen Altersstufen als starke Gemeinschaft an einem gemeinsamen Projekt. Die Jüngeren lernen von der Erfahrung der Älteren, die Älteren übernehmen Verantwortung für die Jüngeren, und alle wissen sich demselben Anliegen verpflichtet, miteinander das bestmögliche künstlerische Ergebnis zum Erklingen zu bringen. Wer von klein auf in einem Knabenchor singt, erlebt nicht nur durch sein aktives Tun die große Welt der Chormusik, sondern erfährt darüber hinaus auch eine intensive Persönlichkeitsbildung.
Da die Zeit der Knabenstimme durch die immer früher einsetzende Mutation zur Männerstimme eng begrenzt ist, bleibt ein Knabenchor allein durch kontinuierliche Erneuerung lebendig. Nur wenn jedes Jahr eine ausreichende Zahl von Jungen die musikalische Ausbildung beginnt, kann ein Knabenchor sein Niveau in Quantität und Qualität halten. Häufig beginnen die Chöre die Ausbildung der Stimme schon im Vorschulalter. Durch die Corona-Pandemie und die Einschränkungen, die gerade das gemeinsame Singen und die Nachwuchswerbung in Schulen betrafen, wurden insbesondere Knabenchöre vor große Herausforderungen gestellt. Auch mit Hilfe digitaler Möglichkeiten konnten neue Wege gefunden werden, den Kontakt mit den Chormitgliedern zu halten und ihre stimmliche Entwicklung zu begleiten und weiter zu fördern.
Alte Tradition, ganz lebendig
Dass Kinder im Gottesdienst singen, ist schon in den ersten christlichen Jahrhunderten bezeugt. Seit dem Mittelalter wurden sie in Dom- und Klosterschulen für diesen Dienst vorbereitet, erhielten aber auch eine breite allgemeinbildende Ausbildung. Berühmte Komponisten erwuchsen aus diesen Chorschulen. Da der Gesang in der Liturgie bis ins 20. Jahrhundert hinein als Aufgabe des Klerus verstanden wurde, erfüllten Jahrhunderte lang fast ausschließlich Knaben gemeinsam mit angehenden Priestern oder Mönchen diese Aufgabe.
Nachdem die Dom- und Klosterschulen spätestens im Zuge der Säkularisation aufgelöst wurden und damit die lange Geschichte der Knabenchöre fast überall erlosch, führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der katholischen Kirche der Cäcilianismus vielerorts zur Neugründung von Knabenchören an Kathedralen und Pfarrkirchen. Der von Regensburg ausgehende Cäcilianismus verstand sich als liturgische und musikalische Reformbewegung und betrachtete die Chormusik der Vokalpolyphonie der Renaissance (Giovanni Pierluigi da Palestrina, Orlando di Lasso) als höchstes Ideal liturgischer Musik. Auch die Liturgische Bewegung, die sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Erneuerung des kirchlichen Lebens aus der Liturgie einsetzte, förderte die Gründung von Knabenscholen und -Chören und maß ihnen eine Pionierfunktion für den Gesang der Gemeinde zu.
Zur gleichen Zeit ist auch im Bereich der evangelischen Kirche eine Phase der Neugründung von Knabenchören zu beobachten. Die Rückbesinnung auf die Alten Meister der protestantischen Kirchenmusik und ihr ausgesprochen wortgebundenes Singen und Musizieren ließ vielerorts die Erinnerung an die Kurrende-Tradition der Schülerchöre wieder lebendig werden. Im Knabenchorklang sah man „eine sachliche Notwendigkeit, um das diesen Werken gemäße Klangbild zu erreichen“ (W. Arbeiter).
Schließlich brachten die Bestrebungen zur Erneuerung des Gottesdienstes in den Jahren vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche starke Impulse zur Gründung neuer Chöre, nun auch von Mädchenchören und gemischten Kinder- und Jugendchören.
Dazu gehört die Vereinigung der Pueri Cantores, der auch die Regensburger Domspatzen angehören. Durch dieses weltweite Netzwerk entstanden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Frankreich aus zahlreiche Initiativen zur Gründung von Knaben-, Mädchen-, Kinder- und Jugendchören in vielen Ländern der Welt. Die Pueri Cantores verstehen ihre Chortreffen und -Begegnungen als Engagement und gesungenes Gebet für den Frieden in der Welt. Wer ihnen zuhört – ob einem Chor allein oder mehreren Chören – kann sich von der Freude und Begeisterung der jungen Menschen anstecken lassen und spüren, wie in ihrem Gesang Gottes Schönheit und Güte erfahrbar werden.